Europäische Mehrsprachigkeit |
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Einsprachigkeit versus MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit
ist ein wirtschaftliches wie soziales Desiderat im multikulturellen
Europa. In der Vielfalt der europäischen Sprachen spiegelt sich der
Reichtum unserer Kulturen und ihrer Kontakte
untereinander. Bisweilen herrscht jedoch in den europäischen Ländern,
insbesondere in den großen, vermeintlich einsprachigen Ländern noch die
landläufige Meinung, Mehrsprachigkeit sei eine Ano-malie, ein
Ausnahmefall. Das Gegenteil ist bei näherem Hinsehen der Fall. Die großen
Länder der Europäischen Union sind genauso wenig einsprachig wie die
kleineren. Sprachpolitische Traditionen, die für eine Nation eine
einzige Nationalsprache postulierten und Anders-sprachigkeit brandmarkten
sind schon allein durch die Migrationen und die damit verbundene
multikulturelle Realität der europäischen Metropolen seit langem überholt.
Mehrsprachigkeit ist in der gesamten Welt der Normalfall. Die
Europäer sind dabei, zu lernen, mit
Mehrsprachigkeit ebenso respektvoll umzu-gehen, wie es mit
benachbarten und im-migrierten Kulturen sein soll. Einsprachigkeit ist
heute in Europa eher als ein Defizit oder gar als Krankheit zu betrachten,
allerdings mit der Aussicht auf Besserung: Einsprachigkeit ist
heilbar! English only?Unsere nationalen Bildungsysteme produzieren keine wirkliche Mehrsprachigkeit. Sie bedienen sich lediglich der Welthilfssprache Englisch. Auf die Ausbildung in den Nachbarsprachen wird meist kein nachdrücklicher Wert gelegt. Dabei wird schon in der Schule das Klischeewort "Fremd-"sprache benutzt, das konnotativ eine Fremdheit transportiert, die einem Nachbarn im gemeinsam bewohnten europäischen Haus eigentlich nicht gebührt. Welthilfssprachen sind zwar grundsätzlich hilfreich, sie transportieren jedoch, wenn sie einmal in vehikulärer Funktion gebraucht werden, längst nicht mehr die kulturellen Merkmale der Ausgangskultur mit sich, vielmehr reflektieren sie die sprachlichen Partikularitäten (und Schwächen) ihrer jeweiligen anderssprachigen Sprecher. Sie entwickeln sich daher auseinander und verändern sich zunehmend, indem sie sich an die sprachlichen Gegebenheiten ihrer Nutzergruppen assimilieren. Sie sind vor allem völlig ungegeignet, eine anderssprachige Kultur adäquat zu vermitteln.Welche Kompetenzen werden erreicht?Der schulische Sprachunterricht erhebt einen maximalistischen Anspruch, dem er nicht entsprechen kann: Von den klassischen vier Kompetenzen wird kaum eine in der Schulzeit wirklich erreicht. Das Lese- und Hörverstehen ist meist unterentwickelt, da viel Zeit für die Entwicklung einer rudimentären Sprech-kompetenz und noch mehr Zeit für eine Schreibkompetenz benötigt wird, die in der außerschulischen Wirklichkeit ohnehin nur von Mutterprachlern verlangt wird, und die selbst hier sogar nur bei wenigen muttersprachlichen Individuen akzeptabel entwickelt ist. Die Beschränkung auf die vier Kompetenzen verschweigt nebenbei noch, dass es eine Reihe von weiteren wesentlichen sprachrelevanten Kompetenzen (wie etwa soziale, kulturelle, pragmatische u.a.) gibt, die nicht explizit Ausbildungsziel sind.![]() |
Brückensprachen erschließen verwandte Sprachen
Unser
Sprachunterricht lässt wichtige konvergente Elemente unserer europäischen
Nachbarsprachen und Kulturen außer acht und verzichtet
auf wesentliche Gemeinsamkeiten, die den Spracherwerb
vereinfachen und beschleunigen. Die Ähnlichkeit des Nieder-ländischen mit
dem Deutschen nutzt in der Regel nur der benachbarte
Dialektalsprecher. Der Lerner aus anderen Regionen Deutsch-lands wird
nicht dazu angeleitet, das Deutsche selber (und seine
Englischkenntnisse) als Brückensprache zu nutzen, um den Zugang zu diesem
verwandten Idiom zu finden. Eine europäische
Mehrsprachigkeit sollte daher auf einer möglichst gut entwickelten
Kompetenz einer Brückensprache aufgebaut sein. Hierbei ist die Kenntnis
der Welthilfssprache Englisch hilfreich und daher
willkommen. Eine Erziehung zur europäischen Mehrsprachigkeit kann
sich allerdings nicht auf das Englische allein stützen, sie muss sich auf
Brückensprachen stützen, die den Weg zu den verwandten Idiomen öffnen
können. Unsere Nachbar-sprache Französisch ist in besonderem Maße dazu
geeignet, als Brückensprache zur Gesamtheit der romanischen Sprachen zu
fungieren, einer Gruppe die ungefähr 800 Millionen Sprecher weltweit
umfasst. Ebenso kann das Russische dazu dienen, einen Zugang zu allen
slawischen Sprachen zu erreichen. Für die Gruppe der germanischen Sprachen
kann jede Ausgangssprache Brückensprache sein, wenn
vorhande-ne Englischkenntnisse hinzutreten.
PostulateUm eine europäische Mehrsprachigkeit zu erreichen, muss die Brückensprache einen besonderen Status im jeweiligen Bildungs-system erhalten, wenn sie als Transferbasis für die übrigen Idiome der Familie dienen soll. Gleichzeitig müssen bei den von der Brückensprache zu erreichenden Idiomen die maximalistischen Forderungen zunächst auf die rezeptiven Kompetenzen beschränkt sein. Die europäische Mehrsprachigkeit ist als Fähigkeit zu betrachten, die mit unter-schiedlichen Kompetenzgraden arbeitet, um im beruflichen Bedarfsfall ein verwandtes Idiom zu aktivieren und Kompetenzen zu erweitern.© 2004 Prof. Dr. Horst G. Klein, Sprecher der Forschergruppe EuroCom |