Kennzeichen der Ost- und Westromania
Gemeinsame Charakteristika von romanischen Sprachen und Gruppen von Sprachen dienen zur besseren
Identifizierung von Parallelitäten innerhalb der Romania. In der Interkomprehension bieten diese Gemeinsamkeiten
große mnemotechnische Vorteile. Das Merkmal des auslautenden -s
Das klassischlateinisch auslautende -s, das sich in verschiedenen Deklinationen als Pluralmarkierungsphonem
in Nominativ und Akkusativ bewährt hat, hatte offensichtlich im Bereich um Latium und auf dem Balkan keinen
Bestand. Es tendierte dazu, stumm zu werden. Dies war besonders häufig der Fall, wenn ein weiterer Konsonant folgte:
tres feminas [trefeminas]
Das moderne Spanische in Andalusien und in weiten Bereichen Lateinamerikas kennt ein ähnliches Phänomen.
Das auslautende -s als Pluralphonem wird immer stärker als vokalischer Nachlaut des Artikels oder des Nomens
empfunden und kaum hörbar, allenfalls noch aspiratorisch vernehmbar, virtuell noch vorhanden, ausgesprochen:
Los vuelos para Miami salen a las cuatro [loßuelo para Majami salen alakwatro]
Noch weiter ist das Neufranzösische gegangen. Zwar fungiert das Auslaut-s in der geschriebenen Sprache z.B. noch
als Pluralmerkmal, in der gesprochenen Sprache ist es jedoch längst verschwunden, lediglich in der Liaison ist es
als Restbestand noch erhalten. Der eigentliche Pluralmarker ist heute im code oral nur noch in der Phonemopposition
des Artikels [l«/le] bzw. [la/le] zu finden.
la porte [laport] - les portes [leport]
Die schwache Position des Auslaut-s manifestierte sich vor allem in der Provinz um Rom und auf dem Lande. Es herrscht
daher die Auffassung, dass ein Vernachlässigen des Auslaut-s Kennzeichen einer ländlich-provinziellen Aussprache
gewesen sein soll.
Gestützt wurde die Tendenz des schwachen Auslaut-s von der Tatsache, dass bereits in republikanischer Zeit satzphonetischen Bedingungen unterworfen war. Zwar wurde es vor Vokal als s gesprochen, doch vor Konsonanten kam das s in An- und Inlaut nur in vier Kombinationen (-sc-, -sp-, -st-, -ss-) vor, in denen es auch gesprochen wurde. Im Auslaut hingegen konnten satzphonetische Kombinationen mit dem Anfangskonsonanten des folgenden Worts entstehen (z. B. mit l, m, n, g, d, f), die innerhalb eines Wortes nicht vorkamen. In eben diesen Positionen verhielt sich das -s labil und verschwand. Lediglich in besonders «kultivierter» Aussprache, die eher in städtischen Kulturen vermutet wird, konnte es sich halten. - Tabelle Pluralmarkierung in der Romania - Tabelle Die 2. Person in der Romania In den besonders von Stadtkulturen geprägten Gebieten Südfrankreichs und in den Küstenstädten der Iberoromania blieb das s als Merkmal des Plurals und der 2. Person weitgehend erhalten. Eine weitere für die Interkomprehension besonders wichtige Rolle spielt das Endungs-s in der Konjugation zur Markierung der besonders häufigen 2. Person. Die Westromania bewahrt hier das Auslaut-s zur Markierung der Anrede du, in der Ostromania verschwindet es, und die Anrede der zweiten Person Sg. wird mit -i markiert. Das Merkmal der SonorisierungEin weiteres charakteristisches Differenzierungsmerkmal betrifft die Gruppe der
Verschlusslaute -p- -t- -k- . Die Westromania tendiert intervokalisch zur Sonorisierung dieser drei Laute, d.h.
sie werden unter Beteiligung der Stimmbänder ausgesprochen und entwickeln sich daher zu -b-, -d-, -g-. Der
Sonorisierungsschub kann sogar noch weiter gehen und wie etwa im Spanischen [β],
[ð], [ɣ] entwickeln
oder intervokalisch ganz ausfallen, wie häufig im Französischen. Ebenso tendieren die bereits sonoren lateinischen Laute -b- -d- -g- im Westen zu einer noch stärkeren Sonorisierung, was ebenfalls zu [β], [ð], [ɣ] (meist -v- -d- -g- geschrieben) oder gar zu vollkommenem Ausfall führen kann. Das Portugiesische, Spanische und Französische sonorisieren -p- -t- -k-. Das Katalanische hat diese Sonorisierung mitgemacht; gerät aber der ursprünglich intervokalische Laut in den Auslaut, entfällt die Sonorisierung, obwohl das Katalanische ansonsten den westromanischen Charakteristika zuzuordnen ist. Das Rumänische sonorisiert wie das Italienische in der Regel nicht. Anhand des italienischen Vokabulars kann man durch die Kenntnis des Sonorisierungsmerkmals oft sogar die Herkunft des Wortes bestimmen. Nach der Regel der Nichtsonorisierung müßte das italienische Wort für den Strand von Venedig lido eigentlich nicht sonorisiert lito heißen, da das heutige Italienische toskanischer Provenienz ist, also südlich der gedachten Linie La Spezia-Rimini anzusiedeln ist. Das sonore -d- in lido zeigt uns, dass dieses Wort offensichtlich norditalienischer Provenienz sein muss, wie die westromanische Lautung -d-, aber auch die geographische Lage der berühmten Strände Italiens verraten. - Tabelle Sonorisierung in der Romania |
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