Kennzeichen der Ost- und Westromania

Gemeinsame Charakteristika von romanischen Sprachen und Gruppen von Sprachen dienen zur besseren Identifizierung von Parallelitäten innerhalb der Romania. In der Interkomprehension bieten diese Gemeinsamkeiten große mnemotechnische Vorteile.
Geographisch wird die West- von der Ostromania getrennt durch eine gedachte West-Ost-Linie durch den italienischen Stiefel von La Spezia nach Rimini. Nördlich und westlich dieser Linie spricht man von der Westromania, südlich und östlich davon von der Ostromania.
Diese Linie teilt gleichzeitig die italienischen Dialekte auf. Das aus dem südlich der Linie gelegenen Toskanischen entstandene Italienische gehört somit wie das Rumänische zur Ostromania, die norditalienischen Dialekte sind westromanischer Prägung.
Die Trennungslinie ist auf die Ausbreitung römischer Besiedlung und den Grad der Urbanisierung zurückzuführen, aber auch andere Gründe können dabei eine Rolle gespielt haben.

Das Merkmal des auslautenden -s

Das klassischlateinisch auslautende -s, das sich in verschiedenen Deklinationen als Pluralmarkierungsphonem in Nominativ und Akkusativ bewährt hat, hatte offensichtlich im Bereich um Latium und auf dem Balkan keinen Bestand. Es tendierte dazu, stumm zu werden. Dies war besonders häufig der Fall, wenn ein weiterer Konsonant folgte:
tres feminas   [trefeminas]
Das moderne Spanische in Andalusien und in weiten Bereichen Lateinamerikas kennt ein ähnliches Phänomen. Das auslautende -s als Pluralphonem wird immer stärker als vokalischer Nachlaut des Artikels oder des Nomens empfunden und kaum hörbar, allenfalls noch aspiratorisch vernehmbar, virtuell noch vorhanden, ausgesprochen:
Los vuelos para Miami salen a las cuatro
[loßuelo para Majami salen alakwatro]
Noch weiter ist das Neufranzösische gegangen. Zwar fungiert das Auslaut-s in der geschriebenen Sprache z.B. noch als Pluralmerkmal, in der gesprochenen Sprache ist es jedoch längst verschwunden, lediglich in der Liaison ist es als Restbestand noch erhalten. Der eigentliche Pluralmarker ist heute im code oral nur noch in der Phonemopposition des Artikels [l«/le] bzw. [la/le] zu finden.
la porte [laport] - les portes [leport]
Die schwache Position des Auslaut-s manifestierte sich vor allem in der Provinz um Rom und auf dem Lande. Es herrscht daher die Auffassung, dass ein Vernachlässigen des Auslaut-s Kennzeichen einer ländlich-provinziellen Aussprache gewesen sein soll.
Gestützt wurde die Tendenz des schwachen Auslaut-s von der Tatsache, dass bereits in republikanischer Zeit satzphonetischen Bedingungen unterworfen war. Zwar wurde es vor Vokal als s gesprochen, doch vor Konsonanten kam das s in An- und Inlaut nur in vier Kombinationen (-sc-, -sp-, -st-, -ss-) vor, in denen es auch gesprochen wurde. Im Auslaut hingegen konnten satzphonetische Kombinationen mit dem Anfangskonsonanten des folgenden Worts entstehen (z. B. mit l, m, n, g, d, f), die innerhalb eines Wortes nicht vorkamen. In eben diesen Positionen verhielt sich das -s labil und verschwand. Lediglich in besonders «kultivierter» Aussprache, die eher in städtischen Kulturen vermutet wird, konnte es sich halten.
- Tabelle Pluralmarkierung in der Romania
- Tabelle Die 2. Person in der Romania
In den besonders von Stadtkulturen geprägten Gebieten Südfrankreichs und in den Küstenstädten der Iberoromania blieb das s als Merkmal des Plurals und der 2. Person weitgehend erhalten.
Eine weitere für die Interkomprehension besonders wichtige Rolle spielt das Endungs-s in der Konjugation zur Markierung der besonders häufigen 2. Person. Die Westromania bewahrt hier das Auslaut-s zur Markierung der Anrede du, in der Ostromania verschwindet es, und die Anrede der zweiten Person Sg. wird mit -i markiert.

Das Merkmal der Sonorisierung

Ein weiteres charakteristisches Differenzierungsmerkmal betrifft die Gruppe der Verschlusslaute -p- -t- -k- . Die Westromania tendiert intervokalisch zur Sonorisierung dieser drei Laute, d.h. sie werden unter Beteiligung der Stimmbänder ausgesprochen und entwickeln sich daher zu -b-, -d-, -g-. Der Sonorisierungsschub kann sogar noch weiter gehen und wie etwa im Spanischen [β], [ð], [ɣ] entwickeln oder intervokalisch ganz ausfallen, wie häufig im Französischen.
Ebenso tendieren die bereits sonoren lateinischen Laute -b- -d- -g- im Westen zu einer noch stärkeren Sonorisierung, was ebenfalls zu [β], [ð], [ɣ] (meist -v- -d- -g- geschrieben) oder gar zu vollkommenem Ausfall führen kann.
Das Portugiesische, Spanische und Französische sonorisieren -p- -t- -k-. Das Katalanische hat diese Sonorisierung mitgemacht; gerät aber der ursprünglich intervokalische Laut in den Auslaut, entfällt die Sonorisierung, obwohl das Katalanische ansonsten den westromanischen Charakteristika zuzuordnen ist.
Das Rumänische sonorisiert wie das Italienische in der Regel nicht. Anhand des italienischen Vokabulars kann man durch die Kenntnis des Sonorisierungsmerkmals oft sogar die Herkunft des Wortes bestimmen. Nach der Regel der Nichtsonorisierung müßte das italienische Wort für den Strand von Venedig lido eigentlich nicht sonorisiert lito heißen, da das heutige Italienische toskanischer Provenienz ist, also südlich der gedachten Linie La Spezia-Rimini anzusiedeln ist. Das sonore -d- in lido zeigt uns, dass dieses Wort offensichtlich norditalienischer Provenienz sein muss, wie die westromanische Lautung -d-, aber auch die geographische Lage der berühmten Strände Italiens verraten.
- Tabelle Sonorisierung in der Romania

 

Die Palatalisierung der ct-Gruppe

Die aus dem Lehnwort Faktum (lat. factum) bekannte Konsonantengruppe -ct- hat sich im Inlaut in den verschiedenen romanischen Sprachen unterschiedlich entwickelt. Die gesamte Westromania tendiert zu einer starken bis sehr starken Palatalisierung.
Palatalisierung bedeutet in der Sprachwissenschaft die Koartikulation eines beliebigen Konsonanten an der Stelle, an der üblicherweise das J ausgesprochen wird. Diese Stelle ist der vordere Gaumen, man nennt ihn lat. palatum, daher die Bezeichnung. Die Palatalisierung eines Konsonanten wird in der Romania normalerweise durch die unmittelbare Folge der beiden palatalen Vokale i und e ausgelöst. Es handelt sich hierbei um ein Phänomen, das man auch aus dem Deutschen kennt. Wenn man z. B. die folgenden fünf Wörter hintereinander spricht und dabei auf die Qualität des [k]-Lauts besonders achtet,
Kunde – Konto – Kante – Kegel - Kind
fällt auf, dass verschiedene [k]-Laute produziert werden. Der Vergleich der beiden extrem entgegengesetzten Laute, das [k] in Kunde und das [k] in Kind, macht die Unterschiede am deutlichsten. Einige Sprachen, wie z. B. das Arabische, benutzen für diese Unterschiede verschiedene Symbolzeichen in ihrer Schrift; im Deutschen wird der [k]-Laut immer als ein und dasselbe Phonem betrachtet, da dieser Laut in unserem Sprachsystem - unabhängig von der Umgebung - immer ein und dieselbe Funktion wahrnimmt. Die verschiedenen deutschen k-Laute sind hier Allophone ein und desselben Phonems.
Versucht man, das [k] im Wort Kinder mit noch mehr Artikulationsenergie auszusprechen: Kinder -> Kjinder -> Tchinder, so vollzieht man eine solche Palatalisierung, indem aus einem an der J-Stelle [i], am Palatum, ausgesprochenen [k]-Laut ein [tʃ] wird.
In den romanischen Sprachen hat die Palatalisierung vor allem die [k]- und die [g]-Laute betroffen. Das anlautende k- vor e und i ist im Osten zu einem [tʃ] palatalisiert worden, in der Westromania ist der Palatalisierungsschub noch weitergegangen und endete bei einem s-Laut (im Spanischen [θ]).
Die Binnenlautung -ct- hat in der gesamten Westromania eine Palatalisierung unterschiedlicher Intensität erfahren, im Osten wurde hier nicht palatalisiert. Das Italienische hat das -ct- zu -tt- assimiliert, das Rumänische hat das -ct- zu -pt- labialisiert.

- Tabelle CT-Gruppe in der Romania

Der Mitteltonvokal

Wörter, die im Lateinischen auf der drittletzten Silbe betont werden, belegt man mit dem griechischen Fachterminus Proparoxytona: KLT hómines und d[u]ódecim sind solche Worte. Bei der Betonung auf der drittletzten Silbe verliert automatisch der Mitteltonvokal (die vorletzte Silbe) an Intensität.
Hier ist ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zwischen Ost- und Westromania zu finden. Während in der Ostromania der Mitteltonvokal in aller Regel erhalten bleibt, fällt er in der gesamten Westromania aus.

- Tabelle Mitteltonvokal in der Romania
                                                                

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