Vulgärlateinische Lautsysteme

Das sogenannte Vulgärlateinische System

Das sogenannte vulgärlateinische System hat seinen Ursprung in Latium, stellt also ein usprünglich italisches System dar. Es breitete sich mit der Kolonisation nach Norditalien, in die Galloromania und die Iberoromania aus.

 

           Palatale Vokale                                     Velare Vokale               

KLT

      ī

    ĭ       ē

       ĕ

 ā     ă

       ŏ

   ō        ŭ

       ū

VLT

    [ i ]

     [ e ]

      [ε]

   [ a ]

      [ɔ]

      [o]

    [ u ]

                                                     Das sogenannte vulgärlateinische System

Das in der zweiten Zeile der Synopse dargestellte VLT-System nennt man in der romanistischen Tradition auch das sogenannte vulgärlateinische System. Wie noch darzustellen ist, gibt es nämlich mehrere VLT-Systeme in unterschiedlichen geographischen Zonen.
Dieses System wahrt eine Symmetrie zwischen den Wandlungsphänomenen auf der palatalen und der velaren Seite. Es differenziert vulgärlateinisch zwischen einem geschlossenen e- Phonem [e] und einem offenen e- Phonem [ε] auf der palatalen Seite und parallel dazu auf der velaren Seite zwischen einem geschlossenen o- Phonem [o] und einem offenen o- Phonem [ɔ]. Dieses System dient den meisten romanischen Sprachen als Ausgangspunkt für ihre Entwicklung: Spanisch, Italienisch, Portugiesisch, Katalanisch, Okzitanisch und Französisch. Ein wesentliches Charakteristikum für die Entwicklung und Unterscheidung der romanischen Sprachen ist die Weiterentwicklung des offenen e-Lauts [ε] und des offenen o-Lauts [ɔ]:

Das Spanische diphthongiert grundsätzlich von [ε] zu ie (PETRAm > piedra) ; ebenso von [ɔ] zu ue (BONUm > bueno).
Das Italienische diphthongiert parallel hierzu von [ε] zu ie (PETRAm > pietra) und von [ɔ] zu uo (BONUm > buono).

Die italienische Diphthongierung ist jedoch abhängig von der Silbenstruktur, in der sich der Vokal befindet. Das Italienische diphthongiert deshalb nur in einer freien, d.h. vokalisch auslautenden Silbe zu ie bzw. uo. In gedeckter, d.h. konsonantisch auslautender Silbe findet keine Dipthongierung statt:
PE-DE > it. piede (freie Silbe); aber TEM-PUS > it. tempo.
Das Spanische diphthongiert in beiden Fällen:
PE-DE > sp. pie (freie Silbe); und TEM-PUS > sp. tiempo.
 

Das archaische System

Für die frühen Kolonien Roms gilt ein älteres Entwicklungssystem, das man das archaische System nennt. Diese Variante ist Basis für die romanischen Entwicklungen in Sardinien, Lukanien und Afrika. Sie verändert die kurzen und langen KLT- Quantitäten in jeweils eine VLT [i], eine (offene) [ε]-, eine [a]-, eine offene [ɔ]- und eine [u]- Qualität.

           Palatale Vokale                                      Velare Vokale               

KLT

     ī        ĭ

   ē         ĕ

    ā        ă

     ŏ          ō

    ŭ            ū

Arch.

VLT

        [ i ]

         [ε]

   

       [ a ]

          [ɔ]

     [ u ]

Das archaische System                        

Das sizilianische System

Die älteste Kolonie des Imperium Romanum war Sizilien. Hier war der griechische Einfluss besonders stark, und die vokalische Entwicklung ging noch weiter als in den bisher beschriebenen Regionen. Das sizilianische System (in Sizilien, Kalabrien, Südapulien) fasst die jeweils drei Extremlaute der palatalen und der velaren Seite zu einem Ergebnis zusammen:
Das lange und kurze KLT [ ī ], [ ĭ ] sowie das lange KLT [ē ] entwickeln auf der palatalen Seite einen einzigen VLT [i]- Laut.
Auf der velaren Seite entsteht aus dem klassischlateinischen langen und kurzen [ū], [ŭ] und langen [ō ] ein einziges vulgärlateinisches [u]- Phonem.
Aus dem kurzen KLT [ĕ] entsteht ein offenes VLT [ε]- Phonem und aus dem kurzen KLT [ŏ] entsteht ein offenes VLT [ɔ] - Phonem.

           Palatale Vokale                                      Velare Vokale               

KLT

    ī     ĭ     ē

        ĕ

    ā        ă

         ŏ          

  ō     ŭ     ū

sizil.

VLT

        [ i ]

      [ε]

       [ a ]

     [ɔ]

       [ u ]

                                                                Das sizilianische System

 

Das Kompromiss-System

Schließlich hat sich in den östlichen Regionen des römischen Reiches, in Ostlukanien und der Balkanromania, das Kompromiss-System entwickelt.
Es verhält sich auf der palatalen Seite wie das sogenannte vulgärlateinische System, auf der velaren Seite folgt es dem archaischen System.
In diesem Phänomen liegt die Erklärung für die vielen [u]-Laute, die für das Rumänische so charakteristisch sind.

              Palatale Vokale                                             Velare Vokale               

KLT

      ī         

   ĭ      ē

         ĕ

    ā      ă

   ŏ      ō

   ŭ       ū

arch.

VLT

    [ i ]

    [ e ]

   [ ε ]

     [ a ]

    [  ɔ ]

     [ u ]

                                                                  Das Kompromiss-System

 

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