Vulgärlateinische Lautsysteme: Vokale unterm Hauptton
Die unter dem Hauptton stehenden
Vokale des klassischen Latein haben sich in der gesprochenen Sprache stark
verändert. Die Gründe für den Wandel, etwa die Vielsprachigkeit in Rom,
die Normdistanz in der Provinz, die unterschiedlichen Muttersprachen der
verschiedenen Sprecher in den kolonialisierten Gebieten, kann man - wie in
5.4 beschreiben - durch die Betrachtung moderner Kreolsprachen auf der
Basis romanischer Sprachen nachvollziehen. Die folgende Tabelle zeigt die
wichtigsten Veränderungen auf der Ebene der Vokale vom geschriebenen
klassischen Latein (KLT) über das gesprochene (Vulgär-)Latein (VLT) bis
hin zu den romanischen Sprachen der Gegenwart.
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|
Palatale
Vokale
Velare
Vokale
|
KLT |
ī
ĭ
ē
ĕ |
ā
ă |
ŏ
ō
ŭ
ū |
VLT |
[ i ] |
[ e ] |
[ ε ] |
[ a ] |
[
ɔ
]
|
[ o ] |
[ u ] |
|
SPA |
i |
e |
ie |
a
|
ue |
o |
u |
ITA |
i |
e
|
ie/e |
a |
uo/o |
o |
u |
POR |
i |
e |
e |
a |
o |
o |
u |
KAT |
i |
e |
e |
a |
o |
o |
u |
OKZ |
i |
e |
e |
a |
o |
o [u] |
u
[ч] |
FRA |
i |
oi
[ωa] |
ie/e |
a |
[œ] /
o |
[ø] / u |
u [ч] |
RUM |
i |
e
(ea) |
ie (ia) |
a |
o (oa) |
u |
u |
|
Palatale Vokale
Velare
Vokale
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KLT |
ī
ĭ
ē
ĕ |
ā ă |
ŏ
ō
ŭ
ū |
VLT |
[ i ] |
[ e ] |
[ ε ] |
[ a ] |
[
ɔ ] |
[ o ] |
[ u ] |
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SPA |
i |
e |
ie |
a
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ue |
o |
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ITA |
i |
e
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ie/e |
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uo/o |
o |
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POR |
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KAT |
i |
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OKZ |
i |
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o [u] |
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FRA |
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oi
[ωa] |
ie/e |
a |
[œ] /
o |
[ø] / u |
u [ч] |
RUM |
i |
e
(ea) |
ie (ia) |
a |
o (oa) |
u |
u |
Der "Quantitätenkollaps"
Das klassischlateinische System
differenziert die Vokale nach Länge und Kürze (= Quantitäten). Ein langer
Vokal steht in phonologischer Opposition zu einem kurzen. Somit sind e und
e zwei unterschiedliche Phoneme, wie die folgenden Beispiele zeigen: venit, er kommt - venit, er ist gekommen; populus,
Volk - populus, Pappel Das vulgärlateinische
System nutzt diese Differenzierung nicht mehr, sondern unterscheidet die
Vokale nach ihren Öffnungsgraden (= Qualitäten): offen [ε] und [ɔ], und geschlossen [e] und [o]. So erklärt es sich, dass z.B. auf der palatalen Seite
ein kurzes i und langes e des klassischen Latein im Vulgärlatein ein
geschlossenes e [e] ergeben haben. Auf der velaren
Seite ist das KLT lange o und der kurze u-Laut im VLT entsprechend zu
einem geschlossenen o [o] geworden. Aus dem
klassischen kurzen e wird ein offenes e [ ε ] im VLT, das in den
romanischen Sprachen zahlreiche Diphthongierungen hervorgebracht hat. Was für die palatale Seite gilt, kann man auf der
velaren Seite parallel beobachten: Aus dem kurzen
o des KLT wird ein offenes o [ɔ] im VLT, das in der Romania ebenfalls
zahlreiche Diphthongierungen hervorgebracht hat. Die Extremvokale i und u verlieren ihr
Quantitätencharakteristikum und werden im VLT zu einem nach Öffnungsgrad
(Qualität) undifferenzierten i - und u -Phonem. Die beiden a-Phoneme des
KLT a und a werden im VLT undifferenziert zu einem einzigen a-Phonem. Die
Symmetrie und Parallelität der Phänomene auf der palatalen und der velaren
Seite erleichtern auch lerntechnisch die Übersicht. Den Wandel von
Quantitätensystem (KLT) zum Qualitätensystem bezeichnet man als
"Quantitätenkollaps". Dieser Ausdruck dient als Schlagwort und hat
lediglich mnemotechnische Funktion. In der Tat handelt es sich nicht um
einen "Kollaps", sondern um eine allmähliche Substitution von Merkmalen.
In der Gegenwart finden sich vergleichbare
Phänomene der Substitution auch im Französischen. Das français zaïrois,
eine Varietät des Französischen in Afrika, dokumentiert dies
beispielsweise: Auf Grund des muttersprachlichen Einflusses von
Bantusprachen (kiKongo, liNgala) tun sich zaïrische Sprecher des
Französischen in Kinshasa schwer, die distinktive Phonemopposition
zwischen dem oralen [o] und dem nasalen [õ] zu realisieren. Diese
Distinktion ist ihnen nicht geläufig. Sie ersetzen daher die Opposition
oral / nasal durch die ihnen aus ihren Muttersprachen vertraute Opposition
lang / kurz. Im heutigen französischen System spielt diese Opposition
keine wesentliche Rolle mehr, sodass die gesprochene Varietät des français
zaïrois problemlos damit arbeiten kann.
Man hört also statt: frz.
patron [patrõ]: nasales [õ] frz. pas trop
[patro]: orales [o]
die
Differenzierung: fr.z. patron [patrō] : langes
[ō ] fr.z. pas trop [patrŏ] : kurzes [ŏ]
In diesem zaïrischen
Beispiel wird in der Gegenwartssprache - umgekehrt zum Sprachwandel vom
klassischen Latein zu den gesprochenen Varietäten des gesprochenen Latein
- das Kriterium Qualität (hier: nasal/oral) durch das Kriterium Quantität
(lang/kurz) ersetzt. In der Linguistik wird dies als Merkmalsubstitution
bezeichnet. Auch der Quantitätenkollaps des
klassischen Latein stellt eine solche Merkmalsubstitution dar. Die
Merkmale der Quantität (Länge/Kürze) werden durch die Merkmale der
Qualität (= Öffnungsgrad: offen/ geschlossen) ersetzt. Der Quantitätenkollaps wird als das zentrale Phänomen
des Sprachwandels vom klassischen zum Vulgärlatein angesehen. Dieser
Lautwandel hat weitreichende Folgen für das gesamte Sprachsystem des
Lateinischen und in dessen Folge auch der protoromanischen Varietäten. Da
die durch Quantitätenunterschiede markierten Oppositionen nicht nur
lexikalischer Natur waren (z.B. pŏpulus # pōpulus, Volk # Pappel), sondern in weitaus
stärkerem Maße im komplexen Flexionssystem des Lateinischen vorkamen (z.B.
vĕnit #
vēnit, er
kommt # er ist gekommen), bedurfte das gesamte Deklinations- und
Konjugationssystem einer Umstrukturierung. Der mit
dem Quantitätenkollaps einhergehende Wandel im System des gesprochenen
Latein dokumentiert daher auch gleichzeitig die Kapitulation der Sprecher
vor der Formenvielfalt des klassischlateinischen Systems.
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