Kreolisierung des Lateinischen?

Ist der Ursprung der romanischen Sprachen ein Fall von Kreolisierung ? In der Literatur ist die Beantwortung dieser Frage umstritten. Erschwert wird sie durch die Schwierigkeit der definitorischen Abgrenzung des Begriffs "Vulgärlatein". Er ist definitorisch eine Fiktion. Dennoch sind partielle Aussagen über die sprachliche Genese der Eigenständigkeit in einzelnen vulgärlateinischsprachigen Regionen möglich.

Meinungsstand

Einige Sprachwissenschaftler sehen im Vorläufer des Französischen eine Kreolsprache: "Le français est issu d'un tel sabir"... . Es wird als "un créole qui a eu de la chance" definiert. Andere lehnen dies strikt ab. Sie stellen vielmehr fest, dass es keine Ansätze für eine Parallele zur Kreolsprachenentwicklung gibt, schließlich sei von gebildeten Galliern das "ganze Latein" aufgenommen und zum Französischen entwickelt worden . Diese These wird in Anlehnung an Jespersens Kontinuitätshinweis, wonach es keinen Bruch in der Entwicklung der romanischen Sprachen gegeben habe, gestützt . Einen sehr guten Einblick in die Problematik gibt ein Beitrag von Brigitte Schlieben-Lange , der die wesentlichen Argumente des pro und contra zusammenträgt, auch wenn die Autorin zu dem Schluss kommt, dass es sich nicht um einen eindeutigen Fall von Kreolisierung handelt: "The varieties of Latin we have discussed, and also our reconstructed Proto-Romance, were "full-sized" languages, i.e. they had a complete phonological, morpho-syntactic, and lexical repertory. In addition, there probably existed various pidginised versions of latin, spoken wherever Romans came into more or less temporary contacts with non-romans, especially along the borders in military camps and in markets. It would be strange if such pidgins had not arisen."

Infolge der soziolinguistischen Erfahrung aus Vergleichsfällen in der Neuen Romania ist für die Existenz von Pidgins und Kreolsprachen im Imperium Romanum zu plädieren. Neben den bestehenden autochthonen Sprachen ist ein sprachliches Kontinuum zwischen Varietäten des gesprochenen Latein und kreolisierten Idiomen anzunehmen.
Es stellt sich die Frage, ob deren Präsenz wirklich nur so marginal war und auf Grenzen, Militärcamps und Märkte beschränkt blieb. Hierzu ist letztlich die Intensität der römischen Herrschaft in den einzelnen Provinzen eingehender zu untersuchen.

 

Das Verhältnis zwischen der gesprochenen Sprache römischer Siedler in den Städten zu der autochthonen und nur allmählich und auf jeden Fall später assimilierten Landbevölkerung ist dabei ebenso zu analysieren wie die soziolinguistische Rolle der römischen Garnisonen, in denen Interkomprehension praktiziert wurde. Wie multilingual war ihre Zusammensetzung? Welche sprachliche Rolle spielten die zahlreichen "Ausländer" in einer Provinz, wie romanisiert waren der syrische Händler, der gallische Feldarzt und der griechische Architekt, die etwa in der Provinz Dakien ihr Dasein fristeten? Es ist zu bezweifeln, dass sie an dem (sicherlich bei wenigen Menschen vorhandenen) vollständigen phonologischen, morphosyntaktischen und lexikalischen Repertoire des Lateinischen einen so hohen Anteil hatten, dass sie als kompetente Sprecher des Lateinischen bezeichnet werden können.
Die multilinguale Situation im Imperium Romanum lässt annehmen, dass die mit Sicherheit vorhandenen reduzierten Kontaktidiome (Pidgins) in vielen Regionen zu kreolischen Idiomen wurden, die sich auf Grund der Distanz zur römischen Norm in der Masse der analphabetischen und sprachlich nur allmählich assimilierten Bevölkerung etablierten.
Studien im Rahmen der Neuen Romania und der Kreolistik zeigen, dass es für das Entstehen von Pidgin- und Kreolsprachen eine ganze Reihe von gemeinsamen Voraussetzungskriterien gibt. Gleichzeitig verdeutlicht der Vergleich zwischen Normsprache und Kreolsprache Gesetzmäßigkeiten, die universalen Charakter zu haben scheinen. Wenn diese Voraussetzungskriterien und (universalen) Gesetzmäßigkeiten sich auf die Entstehungsphase der vulgärlateinischen Varietäten generell anwenden lassen und in Bezug auf eine Regionalvarietät verifizierbar sind, kann man durchaus von sprachlichen Kontinuumsituationen in der entstehenden Romania ausgehen: Mehrsprachigkeit, Kreolsprachenbildung und das Phänomen nähesprachlicher Interkomprehension sind - wie in der Neuen Romania deutlich wird - notwendiger Bestandteil dieses Kontinuums.

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