Grapheme und Orthographie

Code écrit versus code parlé im Französischen

Das Französische hat die größte Distanz zwischen der gesprochen Sprache und der geschriebenen Sprache entwickelt. Diese Distanz geht so weit, dass man feststellen kann, dass das geschriebene Französisch einen deutlich romanischen Charakter trägt, hingegen das gesprochene Französisch typologisch teilweise sogar weit vom Romanischen entfernt ist.

Raymond Queneau hat in seinem Roman Zazie dans le métro stellenweise gesprochenes Französisch in den schriftsprachlichen Code eingefügt, um die Distanz bewusst zu machen:

ltipstu

Diese doppeldeutige "Wort", stellt zwei Morphemketten dar, die im geschriebenen Französischen zwei Realisierungen haben können:

le type se tut

le type se tue

Während die erste Kette das nur schriftsprachlich gebräuchliche passé simple von se taire (schweigen) anvisiert, benutzt die zweite Kette das Präsens des Verbums se tuer (sich töten). Dieses literarische Spiel dokumentiert eine wesentliche Erscheinung der französischen Sprachgeschichte, nämlich den Systemwandel, den man im Vergleich der beiden Codes, des geschriebenen Codes und des gesprochenen Codes, beobachten kann. 
 

Beispiel 1    


Das folgende Beispiel 1 zeigt in der ersten Kolumne die klassisch-lateinische Konjugation im Präsens. Sie ist charakterisiert durch eine Markierung der Person, der Zeit (u.a.) durch eine Endung, die eindeutige Informationen liefert. Die Endung ist in der gesprochenen wie in der geschriebenen Sprache zur morphologischen Differenzierung nötig.
Beispiel1
Die zweite Kolumne zeigt deutlich, dass die französische geschriebene Sprache von heute eine völlig andere Markierung kennt. Sie markiert die erwähnten Kategorien durch Prafigierung von je-, tu-, etc. und zusätzlich durch eine Suffigierung (Endungsmarkierung) durch -e, es, -ons, etc.

In der dritten Kolumne (in Lautschrift) wird deutlich, wie das gesprochene Französisch von heute funktioniert und wohin es sich entwickelt. Eindeutig handelt es sich hier um einen präfigierten Typus, der zwischen einer allgemeinen Kurzform (-port) und einer langen Höflichkeitsform [-porte] differenziert. Diese Kurz- und Langform existiert übrigens auch in vielen französisch basierten Kreolsprachen.

Während die geschriebene Sprache sich noch am lateinischen Endungssystem orientiert, aber schon die Präfigierung kennt, folgt die gesprochene Sprache einem völlig anderen Funktionsschema, der präfigierenden Unterscheidung.

 

Beispiel 2

Die funktionalen Unterschiede zwischen code écrit und code parlé und die damit verbundenen typologischen Charakteristika werden besonders in der Adjektivmarkierung deutlich. Die geschriebene Sprache orientiert sich nach dem lateinischen Modell und kennt vier Markierungen durch Endungen: Null  für m.sg., -s  für m.pl., -e für f.sg., -es  für f. pl.
Beispiel2

Die gesprochene Sprache hingegen funktioniert völlig anders. Während die Pluralmarkierung und die männliche Markierung im code parlé überhaupt nicht stattfindet, also eine Null-Markierung darstellt, zeichnet sich die Femininmarkierung in Singular und Plural nicht durch eine Suffigierung aus (wie in der geschriebenen Sprache), sondern durch die Aussprache des Endkonsonanten -t.

Beispiel 3

Diese unterschiedliche Funktionsweise von gesprochener und geschriebener Sprache hat zwangsläufig zur Folge, dass Fehler entsprechend unterschiedlich bewertet werden müssen:

Beispiel3

Der Fehlertyp 1 zeigt durch die Graphie /le/, dass hier offensichtlich der eigentliche Pluralunterschied, die Opposition zwischen dem  e (in le)  und dem langen e  (inles) nicht verstanden wurden, also die Pluralbildung der gesprochenen Sprache nicht richtig wiedergegeben wird. Der Fehler 2 ist eigentlich nur ein orthographischer Schnitzer. Das Weglassen des -s bei portes ist unproblematisch, hat doch der Lerner gezeigt, dass er die Pluralkategorie bei les und claquent korrekt schriftlich markiert. Der Fehler drei entspricht dem Fehler 2, dokumentiert aber zusätzlich, dass Unsicherheiten bei der Pluralmarkierung des Verbs in der schriftlichen Markierung vorliegen. Fehler 2 und 3 werden oft von Muttersprachlern, die einwandfreies Französisch sprechen, gemacht. 

 

Beispiel 4

In dem folgenden Schema wird verdeutlicht, wie unterschiedlich das Französische die Pluralmarkierung in den beiden Codes vornimmt.

Beispiel4

Hieraus kann man folgern, dass das Französische sich in den beiden Codes typologisch unterschiedlich verhält.

 

Links zur französischen Orthographie:

http://www.portail.lettres.net/j__grammaire_et_orthographe.htm

Bréviaire d´orthographe française:

http://mapage.cybercable.fr/mp2/index.htm

 

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